Borussia treibt den Bundesligatrend an: Wenn das Individuelle über das Kollektiv gestellt wird

Taktiktrends in der Bundesliga: Rasenfunk-Folge analysiert Entwicklungen der Saison 2024/25

Zum Saisonende 2024/25 hat der Podcast und YouTube-Kanal Rasenfunk, moderiert von Sportjournalist Max-Jacob Ost, erneut eine hörenswerte Analysefolge veröffentlicht – diesmal mit Blick auf die taktischen Trends der abgelaufenen Bundesliga-Saison.

Mit dabei: Tobias Escher und Martin Rafelt, beide bekannt als Autoren der Taktikplattform Spielverlagerung.de und profilierte Analysten des deutschen Fußballs. Gemeinsam zeichnen sie ein detailliertes Bild davon, wie sich die taktischen Ausrichtungen und dessen Entwicklungen innerhalb der Liga verändert haben.

Besonders spannend: Martin Rafelt widmet sich in mehreren Passagen gezielt der taktischen Entwicklung von Borussia Mönchengladbach – ein lohnender Blick, wenn man Gerardo Seoanes Fußballansatz besser verstehen will.

Im Folgenden einige Gedanken von @denizguelr – inklusive Einordnung, Zitate und ergänzender Perspektiven zu Rafelts Thesen.

TAKTIKTRENDS mit TOBIAS ESCHER & MARTIN RAFELT: Kein Mittelfeldpressing & der „neue lange Ball“ – Rasenfunk

Was waren die übergeordneten Taktiktrends 2024/25 laut Rasenfunk?

  1. Rückkehr zur Defensive / Backlash gegen Ballbesitzfußball:
    • Viele Teams fokussierten sich auf defensive Stabilität, tiefe Fünferketten, Konterspiel – besonders nach Führungen.
  2. Abkehr vom Mittelfeldpressing:
    • Das klassische Mittelfeldpressing stirbt aus; Teams pressen entweder sehr hoch oder ziehen sich sehr tief zurück.
  3. Zunahme von Manndeckungen im hohen Pressing:
    • Mannorientierte Pressing-Systeme dominieren, gefolgt von Rückfall in tiefes 5-4-1 oder 5-3-2.
  4. Fehlende Innovation im oberen Mittelfeld der Tabelle:
    • Viele Teams befinden sich in taktischen Findungsphasen und zeigen keine klare Linie oder Weiterentwicklung.
  5. Offensive Lösungen auf Mikroebene:
    • Trainer suchen individuelle/offensive Detail-Lösungen – über Synergien zwischen Spielern, intuitive Bewegungen, kleine technische Tricks (z. B. Durchlassen von Pässen).

Wo steht Gladbach in Bezug auf diese Trends laut Rasenfunk?

  1. Findungsphase:
    • Die Borussia wird von Martin Rafelt explizit genannt als ein Team in „permanenter Findungsphase“, womit es beispielhaft für den Trend vieler Bundesligisten steht, die keine gefestigte Spielidee verfolgen.
  2. Defensive Probleme:
    • Im Widerspruch zum übergreifenden Defensiv-Trend gelingt es Gladbach nicht, sich defensiv zu stabilisieren. Das macht sie zu einer Ausnahme in einer Liga, die sich verstärkt auf defensive Stabilität konzentriert.
  3. Offensive Entwicklung:
    • Der Elf von Gerardo Seoane wird eine phasenweise positive Offensive bescheinigt – das passt zur These der Sendung, dass sich viele Teams individuelle offensive Detail-Lösungen suchen. Die Fohlen scheinen hier im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen gewissen Fortschritt zu zeigen.
  4. Kein „Systemfußball“ – Borussia als Musterbeispiel für Lösungs- statt Systemorientierung:
    • Die Bundesliga 2024/25 war taktisch etwas konservativer als 2023/24 – geprägt von defensiver Stabilität. Gleichzeitig befinden sich viele Teams in einer taktischen Suchbewegung – strukturell, personell und ideell. Borussia Mönchengladbach ist ein Prototyp dieses Umbruchs, mit unklarer Spielidee, unterdurschnittlicher Defensive, aber phasenweise mit Lichtblicken im Offensivspiel. In einem Bundesliga-Umfeld, das auf defensive Ordnung und situatives Konterspiel setzt, dreht Gladbach das Bild um: Zwar ist man defensiv anfällig, dafür stand man lange Zeit für konstante Offensivgefahr. Daher lässt sich im Bezug auf das Offensivspiel positiv festhalten: Die Fohlen können sich stellenweise im Offensivspiel zeigen – im Einklang mit dem Bundesliga-Trend zur Individualisierung von Lösungen im Angriff.

Manndeckung vs. Raumorientierung: Interpretierungen und Ergänzungen zu Martin Rafelts Aussagen

Was Rafelt vor allem aussagen möchte: Manndeckungen zu bespielen ist eine andere Art, als Teams im raumorientierten Mittelfeldpressing. Diese Mannschaften, die sich auf Höhe der Mittellinie organisieren, geben der ballbesitzenden Mannschaft Raum und Zeit, um zirkulieren zu können. Zwar ist man als verteidigende Mannschaft kompakt und kontrolliert das Zentrum, allerdings erzeugt man keinen Druck und hat in der Ausgangssituation keine Aussicht auf Ballbesitz. In dieser Situation bekommt das systematische Spiel für die ballbesitzende Mannschaft eine stärkere Größenordnung, weil wie bereits erwähnt: Mehr Zeit und Raum für den ballführenden.

Allerdings, und darauf basiert die raumorientierte Verteidigungstaktik, sind Pressingauslöser – nachdem man Gegner auf eine bestimmte Seite und in gewisse Zonen gelenkt hat – elementar, um Ballgewinne und somit Ballbesitz generieren zu können. Rafelts Argument für die These, dass das Mittelfeldpressing ausstirbt, lautet, dass die Mannschaften mit Ball mittlerweile auf einem Niveau sind, dass sie diese Pressingauslöser bespielen und zumindest den Ball halten und auf die „gegnerfreie“ Seite verlagern können.

Während man also in solchen Spielen augenscheinlich gegnerische und eigene Formationen Minuten lang erkennen kann, befindet sich das Spiel gegen Teams mit Manndeckungen in einem deutlich höheren Spieltempo. So erkennt man die taktischen Ideen lediglich Sekunden lang, weil sofort Aktionen stattfinden: Druck, Zweikampf, Pass und Lauf.
Und der Trend ist in Europa und vor allem in Deutschland eindeutig: Viele Teams spielen im Defensivstil einen manndeckenden Ansatz. Daher ist Rafelts Schlussfolgerung, dass lösungsorientierte Ansätze als Ganzes, systematische Abläufe aktuell ablösen. Das ist logisch, denn: Synergien und Offensivrollen spielen in den Aktionen eine höhere Bedeutung, da ständig Zweikämpfe stattfinden – also: Wer setzt sich durch; welche Synergien entstehen?

Borussias Ansatz: Individuelle Qualität via langen Bällen als Befreiung

Borussias Ansatz gegen manndeckende Pressingteams gleicht der logischen Erklärung von Martin Rafelt und Tobias Escher: Hohes Pressing zwingt ballbesitzende Teams zu langen Bällen. Seonaes Elf setzt dabei ebenfalls auf dieses Mittel. Während es Teams gibt, wie zum Beispiel VfB Stuttgart, aber auch Werder Bremen, die viele lange Bälle über flaches Passspiel lösen, forcieren die Fohlen vor allem den hohen Ball – Richtung Tim Kleindienst. Bei den Teams im mittleren Drittel der Bundesligatabelle, schlug keine Mannschaft so oft den Ball lang, wie Borussia.

Rangliste (abstieigend)Anzahl lange Bälle pro Spiel%-tuale Genauigkeit
1. Mainz51,454%
2. Bochum4857,8%
3. BMG47,656%
6. Wolfsburg44,357,2%
7. Stuttgart43,558,5%
8. Bremen43,452,9%
16. Leipzig4052,5%
17. Augsburg38,456,9%
18. Leverkusen37,260,4%
Datenquelle: Wyscout
Borussias typischen langen Bälle – Videoquelle: Wyscout

Werden Borussias Innenverteidiger zugestellt, so ist es der Keeper, der den langen Ball schlägt. Den bevorzugten Weg wählen die Fohlen jedoch über Itakura, der einen hohen, langen Ball gezielt schlagen kann. Dabei wird klar, dass die Fohlen versuchen mit viel Personal im eigenen Drittel gegnerische Spieler aus tiefen Zonen rauszulocken. Borussia streckt sich dann im 4-2 Aufbau horizontal, um Pressingwege zu verlängern – gleichzeitig hat man im vorderen Block 4vs4 / 3vs3-Duelle. Durch die zusätzliche vertikale Streckung, aufgrund der breiten und weiträuigen Positionsaufteilung, hat der Gegner kaum Präsenz für die zweiten Bälle. Dadurch gibt es überall im vorderen Block 1vs1-Duelle – in denen es sich durchzusetzen gilt, um anschließend Hack und speziell Honorat in der Tiefe einzusetzen.

Borussias Offensivbesetzung ist harmonisch

Außerdem ist die personelle Mischung aus den Spielertypen Hack, Plea, Honorat und Kleindienst eine, die sich sehr gut ergänzt. Während man auf der linken Ballseite mit Hack Innenkanäle besetzt und einen attackierenden Flügelstürmer hat, verfügen die Fohlen auf der Gegenseite mit Honorat einen typischen Flügelläufer, der die Breite hält und als Vorbereiter glänzt. Er ähnelt dem Spielertypen Filip Kostic (Ex-Frankfurter) und seiner taktischen Rolle mittlerweile sehr. Plea verbindet alle offensiven Spielertypen und kann mit seiner Übersicht und Passtechnik alle Spieler einsetzen – und bringt selbst attackierende Momente rein. Mit Kleindienst gewann man einen klaren Zielspieler – für sämtliche Zuspiele in die Box.

Gerardo Seoane fördert die intuitive Entscheidungsgestaltung der Spieler. Er legt kein taktisches Korsett über die Spieler und sagt vorher jeden Pass bis ins letzte Drittel voraus. Beobachtende nennen das oft Pragmatismus: In meinen Augen ist das lösungsorientierte Arbeiten eben genau dieser Pragmatismus: Bringe so viele Spieler, wie möglich in ihre stärksten Rollen ein – im Kontext einer funktionierenden Gruppendynamik.

Dass die Rasenfunk-Gruppe dieses lösungsorientierte, und weniger strategisch-systematische Arbeiten in der Bundesliga als aktuelle Basis feststellt, trifft somit vor allem auf Gladbach und ihren Trainer zu.

Borussia muss sich committen: Spielt klaren Offensivfußball!

So gleich die Arbeit des Trainerstaffs in Gladbach derer ähneln mag, die sich bei anderen Vereinen ebenfalls in der Bundesliga messen lassen dürfen, so anders ist der Spiel-Schwerpunkt Gladbachs: Während sich Mittelfeldteams meistens über ihre defensive Stabilität definieren, befindet sich Borussia defensiv seit Jahren im fragilen Zustand. Die Definition einer durchschnittlichen Mannschaft ist eben jene, dass sie etwas besser können, als unterdurchschnittliche, und andere Dinge schwächer, als überdurchschnittliche Teams.

Borussia sollte also akzeptieren, eine gewisse defensive Instabilität zu haben – denn das Risiko ist a) durch die Spielanlage des Trainers gegeben und b) lohnenswert einzugehen, weil es sich vom Rest des Tabellenmittelfeld abhebt. Borussia hat auch in dieser Saison +55 Tore geschossen und damit sechs mehr als der Tabellenfünfte Freiburg, gleich viele wie Tabellensechster Mainz und zwei mehr als Tabellensiebte Leipzig. Der SC Freiburg beendet die Saison mit einer fast Champions League-Teilnahme und einem negativen Torverhältnis (49:53).

Das klare Commitment zum Offensivspiel könnte dabei noch mehr Impulse und Synergien freisetzen, die aus 56 und 55 Saisontoren in beiden Seoane-Jahren +60 machen. Why not? Diese Spielstrategie würde die Stärken des Trainers und Spieler in den Vordergrund stellen – und gleichzeitig eine klare Spielidentität entwickeln. Taktisch gesehen würden kontrollierende Ballbesitz-Momente Seoanes Spiel weiter ergänzen; vielleicht aber auch in Summe eindämpfen? Es ist zum aktuellen Zeitpunkt schwierig zu antizipieren, wie sich mehr Kontrolle im Ballbesitz auf Seoanes Spiel auswirken würde. Gibt es die Balance, die aus einem aktuellen 55:57 Torverhältnis ein 52:47 entwickelt? Oder leidet die Offensivkraft zu stark daran, sodass die defensive Instabilität weiter in den Vordergrund rückt? Für den Fall, dass man sich defensiv etwas mehr stabilisiert, gleichzeitig offensiv weiter an Stärke einbüßt, wäre dieser Take zu diesem Text eine Anti-These.

Die Frage bleibt also: Welches Commitment braucht Seoane für sein Spiel? Und welche Schlussfolgerungen sollte man daraus – zum Beispiel in puncto Transfer- und Scoutingstrategie – entnehmen?

Für mich ist klar: Alles auf Offensive für Borussia!

Eine Analyse von @denizguelr.

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